Wiesbaden. In der neuen Förderlinie „LOEWE-Exploration“ für unkonventionelle innovative Forschung erhalten zwölf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Landesmittel für ihre mutigen Forschungsansätze. Das hat die LOEWE-Verwaltungskommission auf Grundlage der Empfehlungen des LOEWE-Programmbeirats entschieden. Die ausgewählten Forschungsprojekte werden aus dem Forschungsförderprogramm LOEWE ausgestattet mit Projektmitteln in Höhe von insgesamt gut drei Millionen Euro für die Laufzeit von zwei Jahren.
„Wissenschaft muss Wagnisse eingehen und auch mal scheitern dürfen, um Innovation zu erzeugen. Deshalb geben wir mit unserer Förderlinie LOEWE-Exploration Forschenden die Freiheit, neuartigen, hoch innovativen Forschungsideen nachzugehen“, erklärt Wissenschaftsministerin Angela Dorn. „Mit je zwischen 200.000 bis 300.000 Euro für zwei Jahre können sie eine unkonventionelle Hypothese, einen radikal neuen Ansatz testen. Solche Freiheit ist selten geworden in der Forschungsförderung. Dabei braucht Forschung diesen Mut, um bahnbrechende neue Ansätze finden zu können. Wir schließen damit auch eine Förderlücke im deutschen Wissenschaftssystem, die auch der Wissenschaftsrat jüngst moniert hatte. Denn es ist kein Zufall, dass beispielsweise die Technik für emissionsfreie Autos in anderen Ländern zur Marktreife entwickelt wurde, zum Schaden der deutschen Autoindustrie: Wir brauchen mehr mutige Wissenschaft.“
Thematische Breite zeigt vielfältige Forschungslandschaft
„Schon in der ersten Ausschreibungsrunde der neuen Förderlinie 5 ,LOEWE-Exploration‘“ hat der LOEWE-Programmbeirat sehr viele Anträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern begutachten dürfen“, ergänzt der Vorsitzende des LOEWE-Programmbeirats, Prof. Dr. Karl Max Einhäupl. „Die thematische Breite der eingereichten Vorhaben belegt die große Vielfalt der hessischen Forschungslandschaft. Aus Sicht des Beirats ist es wichtig, die Erfahrungen mit dem neuen LOEWE-Förderformat zeitnah auszuwerten, um die Erreichung der Ziele der Förderlinie 5 zusätzlich zu unterstützen.“
Die Projekte im Einzelnen
Selbstlernende Systeme für nicht-invasive Diabetesüberwachung
Antragsteller: Prof. Dr.-Ing. Viktor Krozer
Institution: Goethe Universität Frankfurt
Viele Menschen leiden an Diabetes und müssen mehrmals täglich ihr Blut auf den Zuckergehalt testen. Dieser invasive Test beeinträchtigt den Lebensstandard. Ziel dieses Projekts ist ein selbstlernendes Testsystem, das ohne Blutabnahme auskommt. Es könnte die Zahl zu spät diagnostizierter Blutzuckerüberhöhungen deutlich verringern und Menschen mit Diabetes helfen, ihren Zustand zu verfolgen. Dazu wurde der Einsatz elektromagnetischer Wellen und ihrer Übertragung durch eine Hautfalte für die Diabetesdiagnostik entwickelt. Mit Hilfe dieser Methode sollen in diesem Projekt selbstlernende maschinelle Methoden zum Einsatz kommen, um Messdaten bei verschiedenen Frequenzen zur Diabetesdetektion zu verarbeiten. Das maschinelle Lernen soll auf der Grundlage von neuronalen Netzen erfolgen.
Identifikation von Mikroplastik mit Photolumineszenz-Anregungsspektroskopi
Antragstellerin: Dr. Marina Gerhard
Institution: Philipps-Universität Marburg
Mikroplastik belastet unsere Umwelt immer mehr, vergiftet insbesondere die Meere und beschleunigt das Artensterben. Um die Belastung zu verringern, sind präzise Analysemethoden zu Art und Herkunft der Plastikteilchen nötig. Bisherige Verfahren sind teuer und kommen deshalb kaum zum Einsatz. Ziel dieses Forschungsvorhabens ist ein alternativer, potenziell sehr kostengünstiger Ansatz, der eine besondere Eigenschaft von Plastik-Materialien nutzt: Sie leuchten – genauer: lumineszieren – unter Anregung mit ultraviolettem Licht, und zwar je nach Farbe des anregenden Lichts und materialspezifischen Eigenschaften unterschiedlich. Mit der Lumineszenz-Anregungsspektroskopie können Materialien daher identifiziert werden. Dieses Forschungsvorhaben will die Treffsicherheit im Vergleich mit etablierten Spektroskopieverfahren evaluieren und darauf aufbauend das Messsystem optimieren und vereinfachen. Idealerweise werden so größer angelegte Studien zur Verteilung von Mikroplastik möglich.
Entwicklung eines Modells zur Simulation von Stoffströmen im Bereich Mikroplastik
Antragsteller: Prof. Dr. Peter Lenz; Prof. Dr. Martin Koch
Institution: Philipps-Universität Marburg
Mikroplastik gerät durch Kosmetika und andere Gebrauchsprodukte oder durch die Zersetzung von Plastikmüll in die Umwelt. Das Projekt will einerseits die Zersetzung von Kunststoffpartikeln und andererseits die Verteilung von Mikroplastik in der Umwelt im Computer simulieren und experimentellen Daten und Messungen gegenüberstellen. Konkret soll der Zerkleinerungsprozess von acht verschiedenen Basispolymeren in Laborexperimenten untersucht und die Mikroplastikbelastung in der Lahn über eine Länge von 30 Kilometern ermittelt werden. Sollte die Modellbildung erfolgreich sein, wäre das der erste Schritt zu einem Vorhersagesystem hinsichtlich der zu erwartenden Belastung der Umwelt mit Mikroplastik.
PaaP: Protease-aktivierbare antivirale Prodrugs
Antragsteller: Prof. Dr. Felix Hausch; Prof. Dr. Eberhard Hildt
Institutionen: Technische Universität Darmstadt; Paul-Ehrlich-Institut (Langen)
Wie wichtig Wirkstoffe gegen Viren sind, zeigt nicht nur die aktuelle Corona-Pandemie. Eines der wichtigsten Kriterien ist das Verhältnis von gewünschtem Effekt zu möglichen Nebenwirkungen. Das Projekt untersucht die Kernidee, ob durch die Kombination von zwei prominenten antiviralen Wirkstoff-Typen sogenannte Prodrugs abgeleitet werden können, die bevorzugt in viral infizierten Zellen wirken. Dadurch könnten unerwünschte Effekte in nicht betroffenen Zellen von Patienten reduziert werden. Dieses Konzept so genannter Protease-aktivierbarer antiviraler Prodrugs soll anhand von Hepatitis C-Viren (HCV) und Corona-Viren (SARS-CoV2) als gute verstandenen Modellsystemen demonstriert werden.
Transfer RNA als Ziel von therapeutischen Fluoropyrimidinen
Antragsteller: Dr. rer. nat. Roland Klassen
Institution: Universität Kassel
Medikamente aus der Gruppe der sogenannten Fluoropyrimidine zielen darauf ab, selektiv infektiöse Pilze oder Tumorzellen zu inaktivieren. Oft aber wirken sie zu wenig oder treffen auch nicht infektiöse Pilze oder Zellen. Es wird vermutet, dass eine Nukleinsäureform, die für die Proteinfabrik in Zellen essenziell ist, ein Angriffsort für diese Medikamente sein könnte. Der Nachweis und eine Kenntnis der molekularen Details könnte den Grundstein zur Entwicklung neuer Therapieoptionen für Krebs und lebensbedrohliche Pilzinfektionen liefern.
Gezielte Hemmung der mRNA-Translation zur Therapie chronischer Schmerzen
Antragsteller: Prof. Dr. Robert Fürst; Prof. Dr. Dr. Achim Schmidtko
Institution: Goethe Universität Frankfurt
Etwa 12 bis 15 Millionen Menschen leiden in Deutschland an chronischen Schmerzen. Existierende Schmerzmittel wirken oft nicht ausreichend oder erzeugen schwere Nebenwirkungen. Dieses Projekt stellt die spannende Frage: Können Schmerzen durch eine Hemmung der sogenannten Protein-Biosynthese, auch als mRNA-Translation bezeichnet, behandelt werden? Ersten Experimente haben Hinweise darauf gegeben, dass Substanzen, die diesen Prozess blockieren, tatsächlich Schmerzen reduzieren können. Das Projekt will die Wirkung verschiedener Translations-Blocker in unterschiedlichen Schmerzmodellen analysieren und Daten zur Wirkstärke und Verträglichkeit liefern. Die Ergebnisse könnten dazu beitragen, eine völlig neue Möglichkeit zur Therapie chronischer Schmerzen zu entwickeln.
AutiBone – zelluläre und molekulare Auswirkungen auf das Skelettsystem bei Autismus-Spektrum-Störungen
Antragsteller: Prof. Dr. rer. nat. Thaqif El Khassawna
Institution: Justus-Liebig-Universität Gießen
Autismus betrifft einen von 59 Menschen. Das verbreitete Bild vom sozial inaktiven, aber hoch intelligenten Kind blendet viele Aspekte der Krankheit aus. Sie kann zu einem breiten Spektrum an Beeinträchtigungen führen, darunter eine verzögerte körperliche und geistige Entwicklung, eingeschränkte soziale Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten oder auch orthopädische Probleme, etwa ein verändertes Gangbild oder verringerte Knochenstabilität. In diesem Projekt soll untersucht werden, ob sich die Auswirkungen von Autismus auf die Knochen bei Kindern und Erwachsenen unterscheidet und wie sich die Standardtherapie mit Medikamenten und eine neuartige Vibrationstherapie auswirken. Ziel ist es, die Auswirkungen detailliert zu untersuchen und so neue Therapieansätze zu finden.
Prinzipiengestützte Kategorienentwicklung für die Digital Humanities. Ein Proof of Concept
Antragsteller: Prof. Dr. Evelyn Gius
Institution: Technische Universität Darmstadt
Das Projekt entwickelt ein Computerprogramm, das Forschende in den Geisteswissenschaften nutzen können, wenn sie Textanalysen anfertigen. Das Besondere ist, dass es bereits vor der Analyse selbst ansetzt, nämlich dann, wenn die Kategorien bestimmt werden, mit denen ein Text analysiert wird. Zum Beispiel könnte eine Literaturwissenschaftlerin herausfinden wollen, wie Frauenfiguren in Romanen an der Wende zum 20. Jahrhundert dargestellt wurden. Die dafür nötigen Genderkategorien könnte sie vor der Analyse mithilfe des Programms ausarbeiten. Menschen fällt es schwer, Kategoriensysteme zu entwickeln, weil nicht alle damit zusammenhängenden Aspekte gleichzeitig bedacht werden können. Das Programm unterstützt das systematische Vorgehen und ermöglicht es, verschiedene Definitionen der Kategorien auszuprobieren, sie also sozusagen zu durchdenken. Dabei soll das Programm so gestaltet werden, dass es möglichst leicht und intuitiv zu bedienen ist, damit die Denkarbeit nicht von technischen Aspekten gestört wird.
Individualität in der Zellkultur: Zeit für den Paradigmenwechsel?
Antragsteller: Prof. Dr. Janina Burk
Institution: Justus-Liebig-Universität Gießen
Körperzellen sind so individuell wie die Menschen, von denen sie stammen. Diese Individualität wird bei Laborstudien zur Entwicklung von Therapien und Medikamenten bisher kaum beachtet – das ist ein großes Hindernis für den Fortschritt der Forschung. Dieses Projekt will einen Paradigmenwechsel anstoßen: Es erforscht, wie Laborstudien mit Zellkulturen aufgebaut sein müssen, um die Individualität der Zellen verschiedener Spender angemessen zu berücksichtigen und so eine größere Aussagekraft über die Wirksamkeit neuer Therapien zu erzielen. Hierzu werden adulte Stammzellen verschiedener Spender in Zellkulturmodellen untersucht. Dabei wird überprüft, welchen Einfluss Studienaufbau und Arten der Experimentwiederholung auf die Ergebnisse haben. Ziel ist es, Empfehlungen zum Studienaufbau zu erarbeiten, die letztlich den Fortschritt bei der Entwicklung neuer Therapien verbessern könnten.
Künstliche Intelligenz zur Erschließung kolonialer Verwertungspraktiken archäologischer Objektsammlungen
Antragsteller: Dr. Matthias Recke; Dr. Karsten Tolle
Institution: Goethe Universität Frankfurt
Archäologisches Material, das im Zusammenhang mit kolonialen Machtstrukturen und primär aus finanziellen Gründen nach Europa gebracht wurde, stellt eine besondere Herausforderung für die wissenschaftliche Bewertung dar. Das interdisziplinäre innovative Projekt will fotografische Sammelaufnahmen, die im 19. Jahrhundert im britisch verwalteten Zypern als „Verkaufskatalog“ von Antiken aufgenommen wurden, einer vielschichtigen Analyse auf der Grundlage neuronaler Netzwerken unterziehen. Die semi-automatisierte Bestimmung der rund 5000 abgebildeten Objekte ist auch für die KI nicht leicht, weil dazu eigentlich deutlich größere Datengrundlagen nötig sind und die historischen Fotografien nicht modernen Standards entsprechen. Da sich ein Großteil der abgebildeten Antiken heute in Berlin befindet, kann eine archäologische Bearbeitung gezielt Zuarbeit leisten und so die Trainingsprozesse der KI optimieren. Die auf vergleichbare Archivbestände übertragbare automatisierte Auswertung wird vertiefte Einblicke in den Antikenhandel zur Kolonialzeit geben.
DeepForest: Entwicklung von Machine-Learning-Methoden zur Schätzung der unteren Schichten der Waldvegetation aus Laserpunktwolken flugzeuggetragener Sensoren
Antragsteller: Prof. Dr.-Ing. Dorota Iwaszczuk
Institution: Technische Universität Darmstadt
Die Wälder der Erde sind von besonderer Bedeutung für das Klima und den Menschen. Sie sind Lebensraum für die viele Tier- und Pflanzenarten, binden Treibhausgase und sind ein wichtiger Rohstofflieferant für uns Menschen. Die möglichst detaillierte Erfassung ihrer Struktur ist für das Verständnis und den Schutz dieses komplexen Systems unerlässlich. Da die Erfassung bei Begehungen sehr aufwändig ist, können moderne Verfahren der Fernerkundung helfen. Mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) sollen Methoden zur Beschreibung des Zustandes des Waldes und der bodennahen Vegetation entwickelt werden. Hierfür sollen Laserscanning- und Bilddaten aus flugzeug- und satellitengetragenen Sensoren genutzt werden, um Daten aus der Bodenperspektive zu erzeugen. Das entstehende digitale Modell kann zum Beispiel für den Hochwasserschutz und für die Untersuchung der Auswirkungen von Waldbränden eine wichtige Rolle spielen.
Agentenbasierte Simulationsmodelle für Mobilitätsmuster im Rhein-Main-Gebiet zur Evaluation von Wohlfahrtseffekten verkehrlicher Maßnahmen („ASIMOW“)
Antragsteller: Prof. Dr. Marco Sunder; Prof. Dr. Tobias Hagen
Institution: Frankfurt University of Applied Sciences
Das Projekt will eine Simulationsumgebung für Mobilitätsverhalten erproben – es widmet sich, salopp gesprochen, der Frage, wie kann man Mobilität und Verkehr so regeln, dass möglichst viele Menschen damit glücklich sind. Im Vergleich zu konventionellen Rechenmodellen soll dabei die Heterogenität der Menschen möglichst gut abgebildet werden, um bessere Prognosen zum Nutzen und den – auch zeitlichen – Kosten für verschiedene Personengruppen abgeben zu können. Somit wäre es möglich, gruppenspezifisch abzuschätzen, wie sich neue Radwege, eine City-Maut oder auch Trends gruppenspezifisch auswirken. Die Projektbeteiligten können umfangreiche Daten nutzen und beschäftigen sich regelmäßig mit verkehrspolitischen Maßnahmen. Das geplante Projekt ist in zweifacher Weise unkonventionell: Solche Modelle wurden aufgrund des hohen Rechenaufwands und des hohen Komplexitätsgrades in Deutschland noch nie für ganze Regionen genutzt, und sie wurden noch nie gezielt für wohlfahrtsökonomische Fragestellungen eingesetzt.
Das 2008 aufgelegte hessische Exzellenzprogramm LOEWE fördert in nunmehr fünf Förderlinien hervorragende Forschungsprojekte, hochinnovative Forschungsideen und exzellente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Seit 2008 wurden bereits 15 LOEWE-Zentren, 64 LOEWE-Schwerpunkte sowie 324 LOEWE-KMU-Verbundvorhaben zur Förderung ausgewählt. Im Frühjahr 2021 wurden die beiden ersten LOEWE-Spitzen-Professuren zur Förderung für jeweils fünf Jahre ausgewählt. Insgesamt hat das Land Hessen für das LOEWE-Programm bereits knapp 990 Millionen Euro bereitgestellt. Hinzu kommen von den LOEWE-Zentren und -Schwerpunkten der ersten bis elften Förderstaffel bis einschließlich 2019 eingeworbene Drittmittel in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro und Eigenmittel von Unternehmen in Höhe von rund 82 Millionen Euro. Im Koalitionsvertrag haben CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vereinbart, das LOEWE-Budget bis zum Jahr 2025 auf 100 Millionen Euro pro Jahr zu steigern.
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