Youtube Video: Angela Dorns Rede beim Symposium „Die documenta fifteen als Zäsur? Kunst, Politik, Öffentlichkeit“

:Dauer: 14 Minuten, 14 Sekunden
Ministerin Dorn am Rednerpult beim documenta-Symposium

Angela Dorns Rede beim Symposium „Die documenta fifteen als Zäsur? Kunst, Politik, Öffentlichkeit“

Die documenta fifteen im Sommer 2022 war Brennpunkt einer Debatte über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus. Bei einem Symposium vom 17. bis 19. November 2023 wollte die documenta und Museum Fridericianum gGmbH von der documenta fifteen aus nach vorne schauen. Konzipiert wurde das Symposium vom documenta Institut. Angela Dorn hielt eine Rede; hier der Wortlaut.

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Sven Schöller,

sehr geehrter Herr Ministerpräsident a.D. Eichel,

sehr geehrte Oberbürgermeister a.D.,

sehr geehrter Herr Professor Hoffmann,

sehr geehrter Herr Professor Bude,

sehr geehrte Vertreter der jüdischen Gemeinschaft,

sehr geehrte Wissenschaftler, Förderer, Freunde und kritische Begleiter der documenta,

liebe Frau Professorin Deitelhoff,

lieber Herr Professor Mendel,

sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Presse,

ich habe mich diese Woche in meinem Ministerium mit  jüdischen Studierenden zum Austausch getroffen. Studierende an hessischen Hochschulen, die eigentlich die gleichen Interessen haben wie ihre Kommilitonen auch: Sie wollen lernen, die Welt kennenlernen, Freunde finden, feiern. Aber vor mir saßen junge Menschen, in deren Gesichtern größte Sorgen zu lesen waren. Junge Menschen, denen die Angst buchstäblich im Nacken saß; man konnte es an ihrer Körperhaltung sehen. Junge Menschen, denen kaum noch zum Lernen und schon gar nicht zum Feiern zumute ist, die sich zurückziehen. Weil sie auf dem Campus angefeindet werden, weil sie das Gefühl haben, weder unterstützt noch geschützt zu werden. Als Deutsche jüdischen Glaubens. Mitten in Hessen, an unseren Hochschulen.

Als in den Auschwitz-Prozessen bundesdeutsche Polizisten den verurteilten Mittätern am Massenmord salutierten, rund 20 Jahre nach der Shoah, sagte Fritz Bauer: „Sie müssen wissen, es gibt einen Eisberg, und wir sehen einen kleinen Teil und den größeren sehen wir nicht.“ Er meinte den Antisemitismus in unserer Gesellschaft – sichtbar ist nur die Spitze, das Problem aber geht weit tiefer. Als wir uns bei der Kulturministerkonferenz im Herbst letzten Jahres ausgiebig mit der documenta fifteen befasst haben, mit den unentschuldbaren Grenzüberschreitungen, die wir dort erlebt haben, habe ich dieses Bild aufgegriffen: Die sichtbare Spitze des Eisbergs, das war der offen bei der weltweit bedeutendsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst ausgestellte Antisemitismus. Ich habe bei der Kulturministerkonferenz deutlich gemacht, dass die Aufarbeitung der antisemitischen Vorfälle der documenta fifteen in meiner Verantwortung liegt, dass Fehler gemacht wurden, von der damaligen Geschäftsführung, dass wir eine falsche Struktur der documenta hatten und dass auch die Gesellschafter Land und Stadt Fehler im Umgang mit Antisemitismus auf der documenta gemacht haben.

Und ich habe deutlich gemacht, dass die Verantwortung darüber hinausgeht: Dass es mit der alleinigen Aufklärung nicht getan sein wird und dass die Lehren aus der documenta für alle Kulturministerinnen und Kulturminister relevant werden. Weil wir es mit einem Eisberg zu tun haben, weil die Probleme tiefer reichen. Zu Beginn gab es gegen das Bild des Eisbergs durchaus noch Widerspruch. Denn diese Erkenntnis schmerzt. Kulturministerinnen und Kulturminister stellen sich schützend vor ihre Institutionen und vor die Kunst. Kasselaner und Kasseläner stellen sich schützend vor ihre documenta.

Aus anfänglichem Zweifeln ist aber Kraft entstanden. Es ist die Erkenntnis gereift, dass wir Kunst und Kultur nicht schützen, wenn wir den nicht-sichtbaren Teil der Probleme wegreden. Das gilt für die documenta, das gilt aber auch für die Debatte über die documenta hinaus. Die documenta ist für die Kulturpolitik in unserem Land zu wichtig, um sie alleine zu betrachten, ihre Bedeutung ist zu groß. Wir sind noch am Anfang und wir erleben Rückschläge, aber wir sind auf dem Weg.

Wir lernen dazu und wir lernen, wie ein Umgang mit Grenzüberschreitungen aussehen kann. Ein Umgang, der die Kunstfreiheit schützt und trotzdem klarmacht: Bis hierhin und nicht weiter. Alles hat Grenzen. Dass wir hier in Kassel und bundesweit Erkenntnisse gewonnen haben und wissen, wie wir handeln können – innerhalb der Kunstfreiheit - das verdanken wir Menschen, die heute hier sind. Ich danke dabei ganz besonders Frau Prof. Nicole Deitelhoff und der fachwissenschaftlichen Begleitung, die in einer aufgeladenen, extrem polarisierten Situation und unter größten Anfeindungen für die Gesellschafter eine scharfe Analyse erarbeitet haben und uns Empfehlungen gegeben haben.

Die Spitze des Eisbergs, die in Kassel aufgetaucht ist, ragt weiter sichtbar empor, sie ist nicht weg, aber sie ist vermessen.

Ich danke Herrn Prof. Meron Mendel, der von Beginn an ein konstruktiver wie kritischer Begleiter der documenta war. Er musste herbe Enttäuschungen erleben auf seinem Weg der Unterstützung, und er ist doch bis heute bereit, Brücken zu bauen. Danke dafür.

Und nicht zuletzt begründet die gemeinsame wissenschaftliche Arbeit mit Prof. Budde heute diese Tagung. Für diesen Einsatz, für den unermüdlichen Rat, für die demokratische Haltung und die Bereitschaft zu streiten und zu verbinden möchte ich meinen tiefsten Dank aussprechen.

Aber der Anspruch von uns allen muss noch größer werden. Dass bei der documenta fifteen gerade in Deutschland Antisemitismus nicht nur gezeigt wurde, sondern auch durch die Art, wie mit den antisemitischen Bildern umgegangen wurde, der Antisemitismus verharmlost und verstärkt wurde – das hat einen schweren Schaden angerichtet. Der Vertrauensaufbau wird ein langer Weg sein. Die documenta geht durch ein tiefes dunkles Tal, dabei sollte sie doch Ort der Beflügelung, der Vision, der Eröffnung des Reichtums menschlicher Potentiale sein – wie es der ehemalige Bundespräsident Gauck sagte.

Darum muss es jetzt gehen: die Aufarbeitung der documenta 15, der gemachten Fehler und der nötigen Schlüsse daraus, trotz aller Rückschläge weiterzuführen. Den jüngsten Rückschlag haben wir jetzt mit dem Rücktritt der Findungskommission erlebt – aber umso mehr gilt: Der Schatten der documenta 15 darf nicht auf documenta 16 liegen. Dafür brauchen wir Menschen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und voranzugehen. Daher bedanke ich mich bei Herrn Prof. Hoffmann, wie er sich unermüdlich anstrengt, das Vertrauen wieder aufzubauen und sehr ernsthaft und gewissenhaft alle Schritte der Aufarbeitung geht. Herr Hoffmann hat kein leichtes Amt und ich würde mir wünschen, dass in der Öffentlichkeit auch wahrgenommen wird, wo der Unterschied zwischen dem Sommer 2022 und der jetzigen Zeit liegt. Wenn Fehler passieren – und die Findungskommission wurde vor seiner Zeit besetzt – dann packt Herr Prof. Hoffmann sie an. Herr Hoffmann, ich bin dankbar für Ihre klare Haltung zu Antisemitismus und israelbezogenen Antisemitismus und ich bin dankbar, dass sie es sich zur Aufgabe machen, diese schwierige Balance zwischen Kunstfreiheit und Schutz vor Diskriminierung auszuloten. Denn das ist unsere Aufgabe: einen Diskurs zu führen, ohne dass es eine Wertverschiebung beim Antisemitismus gibt.

Gerade denen, denen die documenta zu Recht so am Herzen liegt, sage ich: Wir sind in einer ernsten Phase, nach wie vor. Gerade jetzt brauchen wir viele, die mit uns daran arbeiten, dass die documenta 16 frei wird von dem Schatten der documenta 15 – und das geht nur durch Haltung und Aufarbeitung. Und das ist die gemeinsame Aufgabe der Gesellschafter, aber eben auch der Freunde und Förderer der documenta. Die Zukunft der documenta hat unser aller Anstrengung verdient.

Und nun möchte ich zum bittersten Teil kommen. Zu dem, was lange nicht so klar sichtbar war, zum ganzen Eisberg. Nach dem 7. Oktober, nach den barbarischen Terrortaten der Terrororganisation Hamas, dem größten Morden und Abschlachten von Jüdinnen und Juden seit der Shoah unter Verletzung aller Grundsätze von Menschlichkeit und Menschenwürde, hat sich dieser Berg weltweit bedrohlich erhoben, vor unser aller Augen – nicht zufällig, sondern weil die Hamas wollte, dass wir alle zuschauen. Das Jubeln über das zynische Auslöschen von Jüdinnen und Juden. Die Freude daran, Menschen auf die unmenschlichste Art und Weise zu quälen. Doch die Trauerkundgebungen zum Hamas-Terror werden keine Massenveranstaltungen. Schnell hört man die ersten „ja, aber-Äußerungen“ – und das auch von namhaften Intellektuellen, wie beispielsweise auf der Frankfurter Buchmesse, wo nur zehn Tage nach dem Attentat Slavoj Zizek bei seiner Eröffnungsrede keinen Raum lässt für Innehalten und Trauer über die Opfer des Terrorangriffs. Frau Prof. Eva Illouz beschreibt, wie sich gerade Jüdinnen und Juden in Israel und in der Welt von der politischen Linke im Stich gelassen fühlen, die Mitleid für die Zivilbevölkerung des israelischen Vergeltungsschlags haben, aber nicht für die Opfer der Hamas. Und sie analysiert sehr klug die Rede von Zizek: nein, er habe nicht nur die Hamas und die Führung Israels verglichen. Er hat sie in Analogie gesetzt. Und zwei Tage später, zwölf Tage nach dem Beginn des barbarischen Terrors, erscheint in einem der einflussreichsten US-Kunstmagazine ein Aufruf tausender Künstlerinnen und Künstler, der ausschließlich vom Leid in Gaza handelt. Damit Sie mich nicht missverstehen. Auch mich schmerzt das Leid in Gaza, ich trauere um alle Opfer. Doch warum ist es für so viele Intellektuelle nicht möglich, das bestialische Morden der Hamas klar zu verurteilen und das Selbstverteidigungsrecht Israels klar auszusprechen? Ohne ein „Aber“ noch im selben Atemzug, ohne schon in der nächsten Sekunde über „den Kontext“ zu sprechen? Navid Kermani hat das treffend als „Das Schweigen vor dem Aber“ genannt. Während die mordende Terrorgruppe Hamas die palästinensische Bevölkerung als menschliche Schutzschilde missbraucht, wird gegenüber der Selbstverteidigung Israels schnell nach Verhältnismäßigkeit gerufen. Hier möchte ich aus der großen Rede von Vizekanzler Habeck zitieren: „Natürlich muss sich Israel an das Völkerrecht und internationale Standards halten. Aber der Unterschied ist: Wer würde solche Erwartungen an die Hamas formulieren?“

Es beschämt mich als verantwortliche deutsche Politikerin, dass in meinem Büro jüdische Studierende sitzen, die auf dem Campus ihrer Hochschule Angst haben müssen. Es beschämt mich, wenn der Zentralratsvorsitzende Dr. Schuster die aktuelle Kulturszene so beschreibt, dass er ein „dröhnendes Schweigen“ wahrnimmt, denn er hat leider in weiten Teilen recht:

Es gibt einen wachsenden intellektuellen Antisemitismus, meine Damen und Herren. Dieser kommt hinzu zum seit Jahren erstarkten Antisemitismus von rechts. Bei der Landtagswahl im Oktober wurde die AfD in einem ersten westdeutschen Flächenland zweitstärkste Kraft. Der intellektuelle Antisemitismus kommt hinzu zu einem wachsenden Antisemitismus von Menschen mit Migrationshintergrund, die durch Islamismus beeinflusst werden, leider traurige Realität auf hessischen Schulhöfen. Und der intellektuelle Antisemitismus kommt dazu und stärkt den immer schon vorhandenen Antisemitismus aus der Mitte, das achtlose „so sind die Juden halt“. Es kann, es darf keine intellektuelle Herleitung von Antisemitismus geben. Deshalb ist der intellektuelle Antisemitismus so gefährlich: Er stellt den Terror der Hamas als legitime Antwort auf die Politik Israels dar. Er rechtfertigt Verbrechen.

Wir dürfen in unserer Haltung weder gleichgültig noch ausweichend reagieren. Es kann nicht sein, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland, Europa und im Rest der Welt wieder täglich um ihr Leben fürchten müssen.

Ich zitiere aus dem Bericht der Expertenkommission:

„Das Gremium ist der Überzeugung, dass die Ereignisse auf der documenta fifteen notwendig über diese hinausweisen und eine gesellschaftliche Debatte über Antisemitismus und Kunst beziehungsweise allgemeiner Diskriminierung und Kunst dringend erfordern. Was eine Gesellschaft aushalten will, wie sie Kunst versteht und welche Erwartungen sie an diese richtet, wird insbesondere in einer Phase, in der der Kunstbegriff und auch die Kunstvermittlung in ihren Konturen immer mehr aufweichen, von zentraler Bedeutung sein, um Vorfälle wie jene auf der documenta fifteen zu vermeiden. Dieser Bericht kann diese Debatte nicht ersetzen, er kann sie bestenfalls mitanstoßen.“

Die Debatte ist angestoßen, sie wird intensiv heute und morgen hier geführt und ich hoffe noch an vielen anderen Stellen. Sie ist dringlicher denn je. Und sie muss uns ins konkrete Handeln bringen. Denn es ist kein abstrakter Diskurs, den wir führen. Ich habe im Gespräch mit den jüdischen Studierenden sehr intensiv erlebt, gespürt, was Antisemitismus für ihren Alltag bedeutet. Sie und alle Jüdinnen und Juden erwarten zu Recht von uns gerade heute einen Konsens, was es bedeutet, wenn wir in Deutschland sagen: Nie Wieder. Nie wieder ist jetzt.

Vielen Dank.

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