Die Lust an der Unwissenschaftlichkeit
Wissenschaftler sollten sich beim Kampf gegen „alternative Fakten“ stärker engagieren - etwa, indem sie mit den Menschen reden. Der Gastbeitrag.
Vor Wochen zog ein pensionierter Lungenarzt durch die Talkshows, der die Grenzwerte für Luftschadstoffe anzweifelte. Er hatte nie dazu geforscht. Sein Papier enthielt schwere Rechenfehler. Trotzdem fand er ein großes Echo – die wissenschaftliche Kritik an seinen Behauptungen wurde dagegen kaum gehört.
Dass laute, plakative Positionen die differenzierten Einschätzungen der Wissenschaft übertönen, erfüllt mich als Wissenschaftsministerin mit großer Sorge. Denn wir brauchen die Wissenschaft, um die Welt zu verstehen. Wenn wir Entscheidungen treffen, die ihre Erkenntnisse ignorieren, fahren wir gegen die Wand. Die Einsicht, dass Logik und Vernunft dem bloßen Meinen und Glauben überlegen sind, hat zur Aufklärung geführt – davor war Mittelalter. Ich möchte dahin nicht zurück.
Verschwörungstheorien haben einen Wettbewerbsvorteil
Gibt es eine gestiegene Lust an der Unwissenschaftlichkeit? Neu ist weniger das Phänomen, sondern die Dynamik. Sie ist eine Nebenwirkung einer im Grunde positiven Entwicklung: der Demokratisierung von Öffentlichkeit durch die Digitalisierung. Es gab immer Menschen, die Wissenschaft nicht ernst nahmen, und Gruppen, die Interesse daran hatten, wissenschaftliche Erkenntnisse infrage zu stellen.
Das hessische Comedyduo Badesalz hat derlei Skepsis vor bald 30 Jahren auf den Punkt gebracht: „Och des Ozonloch – isch hab noch kaans geseh.“ Neu ist weniger die Ignoranz gegenüber wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern vor allem die rasante Verbreitungsmöglichkeit von Desinformation.
Schlichte Erklärungsmuster, pseudowissenschaftlicher Blödsinn und Verschwörungstheorien haben einen Wettbewerbsvorteil gegen die komplexen Zugangsweisen der Wissenschaft: Sie lassen sich gut in leicht verständlicher Alltagssprache darstellen, die die Gefühlswelt der Adressaten anspricht, und spektakulär zuspitzen. In ihrer „Blase“ bekommt dann die Zielgruppe die Gegenargumente kaum noch mit.
Demokratie braucht eine starke, unabhängige Wissenschaft
Wir kennen dieses Phänomen auch aus der Politik: Menschen suchen nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen. Die bekommen sie nur bei unseriösen Populisten. Deshalb ist es gefährlich, wenn Politiker wissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren oder gar unterdrücken, weil es in ihre Agenda passt.
Wohin das führt, sehen wir in der Türkei, wo Erdogan nach dem Putschversuch Unis schließen und ihre Beschäftigten verhaften ließ. Wir sehen es in Ungarn, wo das Regime Orban die Central European University drangsaliert, oder in den USA, wo Präsident Trump die Budgets von Forschungseinrichtungen kürzte, deren Ergebnisse ihm nicht gefielen.
Demokratie braucht eine starke, eine unabhängige Wissenschaft. Es ist unsere Aufgabe als Politik, Neugier und die Suche nach der Wahrheit zu fördern. Deshalb unterstütze ich das Anliegen der Initiative „March for Science“, die am 4. Mai für eine freie und offene Wissenschaft und für ihren Wert im Kampf gegen „alternative Fakten“ wirbt.
Wissenschaft muss zudem ihre Stimme in Debatten laut und vernehmbar erheben können. Sie muss sich verständlich ausdrücken können, ohne zu banalisieren. Sie muss zugänglich sein, damit Menschen sich nicht ausgeschlossen fühlen. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bemühen sich um diese Vermittlung, veranstalten Kinder- und Bürger-Unis, treten in Science-Slams auf. Wir brauchen mehr davon, um auch Menschen zu erreichen, die der Hochschule nicht von Haus aus nahestehen.
Wissenschaft ist nicht im Besitz der Wahrheit
Ich möchte dazu mit einer Veranstaltungsreihe meines Ministeriums einen kleinen Beitrag leisten. In der Reihe „Die Stunde der Wahrheit“ möchte ich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an Orte einladen, an denen sie sonst selten auftreten, in Gasthäuser im ländlichen Raum zum Beispiel. Am Stammtisch will ich sie ins Gespräch mit Menschen bringen, die in ihrem Alltag weniger Zugang zu wissenschaftlichen Argumenten haben.
Dabei soll und kann es nicht darum gehen, die „eine Wahrheit“ zu verkünden. Wissenschaft ist nicht im Besitz der Wahrheit – aber sie strebt danach. Wissenschaftliche Belege immer wieder zu hinterfragen, zu verifizieren, zu falsifizieren und dadurch Erkenntnisse zu verfeinern – das ist das Handwerk der Wissenschaft. Es gibt Dinge, über die lässt sich streiten. Aber eben auch Dinge, über die in der Wissenschaft große Einigkeit herrschen.
Wohlgemerkt, es geht nicht darum, der Wissenschaft die Verantwortung aufzuhalsen. Am Beispiel der Luftschadstoffe: Zu erforschen, welche Konzentrationen an Stickoxiden schädlich sind, ist Sache der Wissenschaft. Darüber, wie Grenzwerte eingehalten werden sollen, diskutiert die Gesellschaft. Die Entscheidungen treffen am Ende die gewählten Vertreterinnen und Vertreter des Volkes. Das ist ihre Verantwortung.