Als 1955 die erste documenta stattfand, befand sich Deutschland im Übergang: Wiederaufbau prägte das Land, doch die Vergangenheit war noch lange nicht aufgearbeitet. In dieser Zeit schuf Arnold Bode in einem noch kriegszerstörten Fridericianum einen Raum für zeitgenössische Kunst – ein kulturelles Lebens-zeichen einer jungen Demokratie. Die erste documenta war ein „Signal“: für Offenheit, Kreativität und Verantwortung des Menschen als schöpferisches Wesen.
Und dieses „Signal“ ist sie auch in den folgenden Ausgaben geblieben. Spätestens seit der 4. documenta im Jahr 1968, die die letzte unter der Leitung von Arnold Bode war, beansprucht die Ausstellung eine exklusive Position im Kunstbetrieb, die den Kanon der zeitgenössischen Kunst in regelmäßigen Abständen neu definieren will. Eine Ausstellung später wurde diese selbstbewusste Haltung von Harald Szeemann mit der 5. documenta um den Anspruch erweitert, auch im kunsttheoretischen Diskurs den aktuellen Stand der Debatte widerzuspiegeln.
Jede documenta, die bis heute stattgefunden hat, brachte nicht nur die Kunst und ihre jeweiligen Diskurse weiter voran, sondern auch uns – als Gesellschaft. Das Stadtbild Kassels wurde von Künstlern wie Joseph Beuys mit den 7.000 Eichen (der documenta 7, 1982) oder Jonathan Borofsky mit seinem „Man Walking to the Sky“ dauerhaft geprägt. Jeder und jede von uns kennt den beliebten „Himmelstürmer“, wie er in Kassel auch genannt wird, der sich seit der documenta 9 (1992) auf dem Vorplatz des Kasseler Kulturbahnhofs befindet.
Immer war die documenta auch politisch. Die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev, die heute anwesend ist, worüber ich mich sehr freue, hat uns mit der documenta 13 (2012) sogar dazu eingeladen, das Verhältnis von Kultur und Politik gänzlich neu zu definieren.
Jede der bislang fünfzehn documenta-Ausstellungen hat eine wissenschaftliche Aufarbeitung erfahren. Manchmal begleitend, manchmal etwas zeitversetzt. Und diese wissenschaftlichen Analysen und Aufarbeitungen sind enorm wichtig. Dazu gehört die durchaus auch schmerzhafte Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, die 2021 die Beteiligung ehemaliger Nazis in den Anfängen der documenta herausarbeitete – was natürlich nicht folgenlos für die Auswahl oder besser: Nicht-Auswahl von Künstlerinnen und Künstlern blieb, die während des Nationalsozialismus verfolgt wurden. Ein hochaktuelles Beispiel der wissenschaftlichen Diskussion zur gegenwärtigen Lage ist der jüngst von Heinz Bude und Meron Mendel herausgegebene Sammelband „Kunst im Streit. Antisemitismus und postkoloniale Debatte auf der documenta fifteen“. Der Untertitel verweist darauf, dass wir uns inmitten einer neuen und notwendigen Debatte befinden, die ich sehr begrüße.
Und so hat die documenta heute, 70 Jahre nach ihrer ersten Ausgabe, nichts von ihrer Relevanz verloren – im Gegenteil. In einer Welt, die von Krisen, Umbrüchen und Polarisierung geprägt ist, brauchen wir Orte, an denen andere Perspektiven sichtbar werden. Orte, an denen nicht nur Antworten gesucht, sondern auch mutige und kritische Fragen gestellt werden dürfen. Die documenta ist ein solcher Ort.
Mein Dank gilt allen, die das aktuell und in der Vergangenheit möglich gemacht haben und machen: den Künstlerinnen und Künstlern, den Kuratorinnen und Kuratoren, den Mitarbeitenden der documenta gGmbH, den Förderern, der Stadt Kassel, dem Bund – und nicht zuletzt den Bürgerinnen und Bürgern Kassels, die ihre Stadt immer wieder aufs Neue mit ihrem Engagement und großer Hingabe zu einem Ort des globalen Austauschs machen.
Natürlich war und ist die documenta nie frei von Kontroversen. Doch gerade das gehört zu ihrem Wesen. Eine Kunst, die nicht irritiert, nicht infrage stellt, läuft Gefahr, belanglos zu werden. Die documenta war nie bequem – und gerade deshalb ist sie so notwendig! Zugleich ist klar: Die Freiheit der Kunst endet dort, wo sie zur Bühne für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wird. Und auch daran haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes – wie Sie alle wissen – gedacht und hier mit dem Artikel 1 die Würde des Menschen als unantastbar definiert.
Als Kunst- und Kulturminister des Landes Hessen bin ich stolz, dass diese bedeutende Institution hier in unserem Land zu Hause ist. Wir haben sie gemeinsam mit der Stadt Kassel gestärkt und unterstützen sie weiterhin – aus Überzeugung und im Namen der Kunstfreiheit.
Denn: Diese Freiheit ist, wie ich eingangs bereits verdeutlicht habe – nicht selbstverständlich. Sie ist bedroht – von autoritären Regimen, von Ideologien und Gewalt, auch und gerade im Jahre 2025. Die Bilder brennender Bücher, die Diffamierung als „entartete Kunst“, die Zerstörung von Kulturgütern durch fanatische Ideologen, das Aberkennen eigener kultureller Identität – all das ist uns eine große Mahnung.
Arnold Bode, der „Vater“ der documenta, formulierte es schlicht und eindrucksvoll: „Ich musste aus Kassel etwas machen, um nicht unterzugehen.“
Das war keine Flucht in die Kunst – es war ein Aufbruch durch die Kunst. Ein gesellschaftlicher Impuls. Für Kassel. Für Hessen. Für Deutschland. Für die Welt.
Dieses Jubiläum ist nicht nur ein Anlass zum Rückblick, sondern ein Auftrag: Für mindestens weitere 70 Jahre voller Vielfalt, künstlerischem Mut und Neugier.
Ich blicke mit Zuversicht auf dieses besondere Jubiläumsjahr – auf 7000 Palmen, auf vielfältige Projekte – und auf die kommende documenta 16 im Jahr 2027.
Mit Noami Beckwith haben wir auf Vorschlag der Findungskommission eine exzellente Künstlerische Leitung gewinnen können.
Dear Naomi Beckwith, your impressive background, intellectual clarity, and deep understanding of the documenta’s global and local significance truly stand out. Your presentation in March powerfully outlined your curatorial vision for documenta 16 and how you intend to balance artistic freedom with a strong stance against antisemitism and discrimination. Your thoughtful approach has our full recognition. We look forward to the path ahead and are excited for summer 2027, when the world will once again turn its eyes to Kassel.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns heute feiern: Den Mut von damals. Die Idee, dass Kunst Gesellschaft verändern kann. Die Bereitschaft, „Etwas auszuhalten“ und dafür einzustehen, gemeinsam. Und natürlich die documenta – als Symbol für eine offene Gesellschaft, als Raum des Dialogs und der Freiheit.
Herzlichen Glückwunsch, liebe documenta – hier in Hessen, hier in Kassel, im Herzen Europas.